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Rewsen | Beiträge: 3163
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« am: 09. Dez 2007, 11:30 » |
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Vor einiger Zeit hatte Sivan Perwer hier in Berlin einen Auftritt bei einem gemeinsamen Konzert mit Koma Car Newa, Grup Canlar, Sener Yildiz und der Sängerin Nesenûr. Die meist jugendlichen Besucher waren begeistert, als kak Sivan auf die Bühne kam und das spornte diesen wohl zu Höchstleistungen an. Er interpretierte seine bekannten Songs wie "Delale", "Kîne em" und weitere Lieder. Im Anschluss sang er zusammen mit der Sängerin Nesenûr und Koma Car Newa die kurdische Nationalhymne "Hernê pes" und "Wa hatin pesmergê me". Das Publikum war begeistert und jubelte ihm unter "Bijî Kurdistan"-Rufen zu. Im Anschluss an dieses furiose Konzert war Sivan Perwer - trotz der späten Stunde (mittlerweile war es bereits 3:30 Uhr morgens) - gerne bereit, kurdmania.com ein Interview zu geben.
Danke, kak Şivan, dass Du Dir kurz Zeit genommen hast für dieses Gespräch. Lass mich zuerst fragen, wie Du zur kurdischen Musik gekommen bist. Gab es einen Lehrer oder eine Art Vorbild für Dich?
An erster Stelle bin ich Kurde. Ich bin mit kurdischer Sprache und kurdischer Musik aufgewachsen. Mein Vater war ein guter Musiker und er hat zu Hause immer seine musikalischen Freunde um sich versammelt und Dengbêj-Lieder gesungen. Ich war noch klein und habe immer zugehört. Ich war immer neugierig, habe zugehört und mir die Lieder gemerkt, die sie sangen. Diese Lieder habe ich dann immer gesungen und jeder sagte: „Was hat der Junge eine schöne Stimme. Komm mal her und sing für uns. Du bekommst auch eine Süßigkeit von uns.“ So bin ich dann aufgewachsen. Als ich größer wurde und die Situation der Kurden verstand, habe ich die Musik benutzt um einen Punkt festzumachen und von diesem Punkt auszugehen. Das war mir sehr wichtig. So habe ich angefangen. Als ich 10 - 13 Jahre alt war, fing ich an, selber Lieder zu komponieren. Mein Vater hat mir immer gesagt: „Mein Junge, die Lieder sind gefährlich. Du musst aufpassen, was Du singst. Die türkische Regierung verbietet alles und kann Dich dafür bestrafen“. Die türkische Regierung hat damals und heute eine sehr strenge Assimilationspolitik gegen die Kurden betrieben um die kurdische Identität zu vernichten und nationale und historische Werte zu zerstören.
Hast Du damals mit der Musik begonnen, weil es Dir gefiel oder wolltest Du bereits damals schon ein Ziel verfolgen? Und welches war das?
Ja, Musik kommt aus der Seele und drückt Gefühle aus. Wenn man traurig ist oder wenn einem das Herz schwer ist, möchte man etwas dagegen unternehmen. Wenn man keine Kraft hat, etwas an der Situation zu ändern, dann versucht man, anderen dieses Gefühl mitzuteilen. Und ich drücke mich musikalisch aus. Es hat mich immer beruhigt und zufrieden gestellt, diese Lieder zu singen. Ich habe mich damit immer gut gefühlt. Ich habe festgestellt, dass es mir Kraft und Moral gegeben hat, diese Lieder zu singen, deswegen habe ich weitergemacht. Musik ist ein großer Teil des Lebens, ein großer Teil der kurdischen Kultur. Daher ist es sehr wichtig, dies weiterzuführen. Auch wenn alles verboten ist, so lässt sich die Musik nicht töten. Im Gegenteil, sie verbreitet sich mehr.
Und wie siehst Du das heute? Siehst Du das Singen heute nur noch als Singen oder hast Du die Hoffnung, dass Deine Musik in den Zuhörer etwas bewegt?
Ich muss Musik machen. Ich benutze Musik in dieser Situation um die Realität zu zeigen. Musik zu machen und an Musik Freude zu haben, ist natürlich schön. Über Natur, über Liebe, über Menschen, über Frieden, Freiheit, das ist natürlich schön, aber wir befinden uns in einer sehr schweren Lage. Über diese Musik muss man berichten. Musik kann viel bewirken.
Hast Du diesbezüglich aktuelle Ideen oder Projekte, mit denen Du gerade jetzt an die Öffentlichkeit gehen könntest? Du bist ja anerkannt als Weltmusiker.
Es gibt hierzu der Öffentlichkeit viel zu erklären, die momentane Lage im Irak, in Kurdistan allgemein und die Situation der Kurden überall. Es geht um Menschenrechte, Frauenrechte… es gibt vieles, worüber man sprechen muss. Darauf kann man sehr gut mit Musik aufmerksam machen.
Die Şivan Perwer Stiftung hast Du vor ca. 3 Jahren gegründet. Welche Entwicklungen haben sich ergeben? Welche Projekte konnten verwirklicht werden?
Ja, das ist richtig. Wir haben die Stiftung vor ca. 3 Jahren gegründet. Diese Stiftung ist natürlich auch sehr wichtig für uns, im Hinblick auf Kontakte zwischen den Musikern untereinander, der kurdischen Musiker mit der Weltmusik, Studios usw. Wir wollen die kurdische Musik modernisieren und ein gutes Archiv aufbauen und noch vieles.
Und das seht Ihr als Eure Aufgabe an?
Ja, die Stiftung ist diesbezüglich sehr wichtig für uns.
Was kannst Du rückblickend auf die letzten 3 Jahre sagen? Was konnte schon bewirkt werden?
Wir haben keine großen Projekte realisiert, aber wir haben viele Konferenzen und weltweit viele Konzerte für kurdische Komponisten, für Dengbêj und für verschiedene Musiker veranstaltet. Wir lehren momentan Kurdisch-Deutsch für die ausländische kurdische Arbeiter. Viele von ihnen sind mehr als 40 Jahre hier in Deutschland, können aber noch immer kein Deutsch. Das ist also ein Projekt von uns. Außerdem lehren wir auch Musik: Saz, Klavier, Violine, Komposition und anderes..
Wie kann ich mir das vorstellen? Wie realisiert Ihr das? Kann Euch ein Student aufsuchen und seinen Wunsch äußern, bei Euch Musik zu lernen?
Jeder ist herzlich eingeladen. Wir lehren alles Notwendige.
Wie sehen denn Deine Pläne für die Zukunft aus?
Ich engagiere mich sehr für den Frieden und die Freiheit. Das ist sehr wichtig. Das Volk hat mich zu einer Art Sprachrohr für sich gemacht. Ich stehe auch dafür, so dass ich immer weiter machen muss. Für die Zukunft habe ich große Hoffnung und glaube 100%ig, dass Kurdistan frei sein wird. Die kurdische Kultur bedeutet Frieden, Freundschaft und Zusammenleben im Nahen Osten. Wir könnten ein Vorbild sein.
Deswegen müssen wir zuerst bei uns anfangen. Wir müssen Freundschaften eingehen und Kontakte knüpfen mit anderen Völkern. Wir sind nicht gegen andere Völker. Wir werden nicht geliebt, aber wir lieben andere Völker. Wir wissen, was Unterdrückung und Betrug bedeutet, deswegen müssen wir jetzt andere lehren, was Frieden und Freiheit bedeuten.
Das ist ein interessanter Ansatz. Was denkst Du, wie sich die momentane Lage entwickelt?
Die Situation ist immer schlecht in der Türkei. Ich weiß nicht, was die Türkei macht. Die Türkei ist verrückt, glaube mir. Mit dieser Methode kann die Türkei niemals etwas erreichen. Sie wird immer verlieren, so wie sie es heute auch tut. Türkei hat seit 84 Jahren immer die Kurden bedroht und eine Assimilationspolitik durchgeführt, um Kurden zu vernichten. Mit dieser Politik kann die Türkei sich nicht weiterentwickeln und Fortschritte machen. Wenn man über Menschenrechte spricht, dann muss man diese zuerst im eigenen Land umsetzen. 30 Mio. Kurden leben in der Türkei und die türkische Regierung verlangt für 300.000 Türken nach Rechten in Zypern. Aber sie vergessen, was in ihrem eigenen Land passiert. Sie vergessen, dass es dort 30 Mio. Kurden gibt. Sie vergessen das, weil sie mit einer absolut irrigen Idee erzogen wurden. Sie erziehen das Volk mit dieser kaputten Idee. Kemalismus ist eine Ideologie, die der von Hitler gleichkommt. Sie wenden weiter diese Methode an, die ähnlich damals in Deutschland stattgefunden hat und leider auch heute noch Anhänger hat. Die Deutschen haben sich gefragt: „Warum passiert das in unserem Land?“ Jetzt werden die Türken das gleiche tun. Sie sagen einmal, dass sie Brüder der Kurden sind, aber sie verbieten alles, was Kurdisch ist. Die Türkei, die türkische Sprache sind unantastbar. Den Kurden billigen sie nicht die geringsten Rechte zu. Das ist keine Geschwisterlichkeit!
Wie könntest Du Dir jetzt eine Lösung vorstellen?
Kurden müssen sich überall einigen. Egal, ob PKK, KDP, PDK, PUK oder andere, alle müssen sich einigen. Das ist unsere Freiheit. Wir sind aufgeteilt, zwischen 4 Ländern, also geografisch, kulturell, wirtschaftlich und wenn wir uns weiterhin spalten lassen, verlieren wir. Deswegen sind wir bis jetzt nicht als eine gemeinsame Kraft aufgetreten.
Eine Einheit zu schaffen, wird schwierig sein. Was glaubst Du, wie man eine solche Einheit erreichen kann?
Wir müssen uns untereinander respektieren und zueinander finden. Das ist unsere einzige Möglichkeit. Wir müssen uns kulturell, sprachlich vereinigen und wir dürfen nicht aufgeben. Was bedeuten 20 kurdische Abgeordnete in einem türkischen Parlament von 500 Abgeordneten? Sie sind hilflos und haben keine Kraft. 20 Abgeordnete alleine können nicht viel ausrichten. Wir müssen uns untereinander einigen und zusammen stark sein um etwas zu erreichen. Die Kurden sind ein friedliches Volk. Ich denke nicht, dass es so mit anderen Nationen so verfahren würde wie es manche mit ihnen tun. Sie wollen Geschwisterlichkeit.
Kommen wir auf ein anderes Thema zu sprechen: Du hattest vor einiger Zeit die Idee, einen eigenen TV-Sender für Kultur und Musik zu gründen. Was ist daraus geworden?
Das ist richtig. Dieses Projekt gibt es weiterhin. Wir haben jetzt auch die Zeit und die Organisationsmöglichkeiten, dies zu schaffen. Mit der Stiftung läuft es sehr gut. Wir haben viele Mitglieder und auch gute Kontakte für das Projekt. Wir fangen jetzt an, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Es gab diese Idee durchaus, allerdings nahmen dann einige Beteiligte von der Idee Abstand und zogen sich aus dem Projekt zurück. Nun wollen wir die Idee jedoch verwirklichen, da die Voraussetzungen jetzt gegeben sind.
Um noch mal auf die Musik zurückzukommen, wie beurteilst Du deren Entwicklung heute?
Es gibt sehr viele Künstler, was ich sehr gut finde. Die Kurden haben eine eigene Mentalität. Sie singen vom Kampf, Problemen und Liebe. Alles wird durch die Musik erzählt. Die kurdische Musik ist meiner Meinung nach sehr weit entwickelt. Unser Volk ist reich an Sängern, Komponisten, Musikern allgemein, Dichtern. Wir haben sehr viele Möglichkeiten. Es gibt viele verschiedene Musikrichtungen, die sich entwickelt haben, das ist gut so. Es gibt viele Komponisten, die auch gefördert werden müssen. Sie müssen sich immer weiter entwickeln. Es kommen immer neue Musiker hinzu.
Du bist vor ca. 1 – 2 Jahren gefragt worden, ob Du in der Türkei auftreten würdest. Wie würdest Du die Frage heute beantworten?
Ich kann zwar in die Türkei fahren und ich habe auch keine Angst vor einer Inhaftierung, aber man muss auch überlegen, wem so etwas nützen würde. Deswegen bleibe ich noch hier und warte.
Ich könnte mir aber vorstellen, dass Du viele Menschen mobilisieren könntest.
Ich habe eine sehr große Aufgabe auch hier. Es gab immer wieder Anfragen und es wurde auch viel Geld geboten. Ich habe jedoch nicht angenommen und habe diejenigen gefragt: „Könnt Ihr mich schützen? Könnt Ihr Euch selber schützen?“ Und das alles wegen eines Konzertes? Aber ich warte noch. Ich hoffe, dass ein solcher Auftritt eines Tages möglich sein wird.
Könntest Du Dir vorstellen, ins befreite Kurdistan zu ziehen und dort zu leben?
Aber natürlich! Ich habe ein Haus im freien Kurdistan, in Dohuk, und bin so oft wie möglich da. In Kurdistan ist es wunderschön. Dort entwickelt sich das Land, es blüht auf. Man kümmert sich dort um sehr wichtige Dinge wie die Infrastruktur, Wasserversorgung, Stromversorgung usw. Wenn uns niemand mehr Probleme machen würde, kann es dort in einigen Jahren – glaube mir – wie in Europa sein.
Und unter diesen Bedingungen würdest Du zurückgehen?
Ich bin dort. Ich bleibe immer lange da. Ich bin oft in Dohuk, in Slemanî und in anderen Städten. Ich reise dort viel umher. Man kann sagen, dass ich ungefähr die Hälfte eines Jahres in Kurdistan verbringe.
Dann danke ich Dir für Deine Zeit, kak Şivan, und für das interessante Gespräch. Gelek sipas ji bo hevpeyvînekê pir balkeş.
Sipas xweş û serkeftin ji bo Kurdmania! Ich danke Dir und viel Erfolg für Kurdmania!
Rewşen ji bo Kurdmania.com
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« Letzte Änderung: 15. Dez 2007, 11:12 von Rewsen »
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